Keine Versagung des Vorsteuerabzugs für Eingangsbezüge
Keine Versagung des Vorsteuerabzugs für Eingangsbezüge während eines vorübergehenden Zeitraums fehlender steuerlicher Erfassung - Siemens Gamesa Renewable Energy România SRL
Diesen Artikel als PDF (136 KB)MwStSystRL Art. 9 Abs. 1, Art. 167, Art. 168 Buchst. a, Art. 178, Art. 179 Abs. 1, Art. 213 Abs. 1 UAbs. 1, Art. 214 Abs. 1, Art. 250 Abs. 1, Art. 252, Art. 273 Abs. 1 Die MwStSystRL, namentlich ihre Art. 213, 214 und 273, ist dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, wonach die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen, der in einem Zeitraum Erwerbe getätigt hat, in dem seine USt-IdNr. gelöscht war, weil er keine Steuererklärungen abgegeben hatte, das Recht, die Vorsteuer für diese Erwerbe mittels nach der Reaktivierung seiner Identifikationsnummer erstellter Mehrwertsteuererklärungen – oder ausgestellter Rechnungen – abzuziehen, allein aus dem Grund versagen kann, dass diese Erwerbe während des Zeitraums der Deaktivierung stattfanden, obwohl die materiellen Anforderungen erfüllt sind und das Vorsteuerabzugsrecht nicht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird. EuGH, Urt. v. 12.9.2018 – C-69/17, Siemens Gamesa Renewable Energy România SRL, Vorabentscheidungsersuchen des Curtea de Apel București (Rumänien) Sachverhalt: 1Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der MwStSystRL (ABl. 2006 L 347, 1) in der durch die Richtlinie EuGH: Keine Versagung des Vorsteuerabzugs für Eingangsbezüge während eines vorübergehenden Zeitraums fehlender steuerlicher Erfassung - Siemens Gamesa Renewable Energy România SRL(MwStR 2018, 919)
2010/45/EU des Rates v. 13.7.2010 (ABl. 2010 L 189, 1) geänderten Fassung. 2Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Gamesa Renewable Energy România SRL, vormals Gamesa Wind România SRL (im Folgenden: Gamesa) auf der einen sowie der Agenţia Naţională de Administrare Fiscală – Direcţia Generală de Soluţionare a Contestaţiilor (Staatliche Steuerverwaltungsagentur – Generaldirektion für Rechtsbehelfsentscheidungen, Rumänien) und der Agenţia Naţională de Administrare Fiscală – Direcţia Generală de Administrare a Marilor Contribuabili (Staatliche Steuerverwaltungsagentur – Generaldirektion für die Verwaltung von Großsteuerzahlern, Rumänien) auf der anderen Seite wegen des Rechts von Gamesa, Mehrwertsteuer, die sie für Erwerbe entrichtet hat, die sie in dem Zeitraum getätigt hat, in dem ihre USt-IdNr. gelöscht war, als Vorsteuer abzuziehen.
Rechtlicher Rahmen
3-18… Ausgangsverfahren und Vorlagefragen 19 Gamesa ist eine Gesellschaft rumänischen Rechts mit Sitz in Bukarest (Rumänien), deren Geschäftsgegenstand die Montage, Installation und Unterhaltung von Windparks ist. 20Zur Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit erwarb Gamesa verschiedene Gegenstände und Dienstleistungen von in Rumänien und in anderen Ländern der Europäischen Union niedergelassenen mehrwertsteuerlich registrierten Lieferanten. Sie übte ihr Vorsteuerabzugsrecht bzgl. der Erwerbe durch Abgabe einer Mehrwertsteuererklärung aus. 21Vom 7.10.2010 bis zum 24.5.2011 war Gamesa zum inaktiven Steuerpflichtigen iSv Art. 11 Abs. 11 des Steuergesetzbuchs erklärt, da sie während eines Kalenderhalbjahres keine der gesetzlich vorgesehenen Erklärungspflichten erfüllt hatte. 22Im Zeitraum v. 26.11.2014 bis zum 29.7.2015 wurde bei Gamesa eine Steuerprüfung zur Überprüfung ihrer mehrwertsteuerlichen und körperschaftsteuerlichen Situation in Bezug auf im Zeitraum v. 15.5.2009 bis zum 31.12.2013 ausgeführte Umsätze durchgeführt. Auf der Grundlage des nach dieser Überprüfung erstellten Berichts erging gegen Gamesa ein Steuerbescheid, mit dem ihr das Recht auf Abzug von Vorsteuer iHv 3.875.717 rumänischen Lei (RON) (ungefähr 890.000 €) versagt und eine Verpflichtung zur Zahlung von Nebenforderungen iHv 2.845.308 RON (ungefähr 654.000 €) auferlegt wurde, was im Wesentlichen damit begründet wurde, dass ihr für die Erwerbe, die sie in dem Zeitraum getätigt habe, in dem sie für inaktiv erklärt gewesen sei, kein Abzugsrecht zugestanden habe. 23Der von Gamesa gegen die zusätzlichen Steuerforderungen eingelegte Einspruch wurde mit einer Entscheidung der Staatlichen Steuerverwaltungsagentur – Generaldirektion für Rechtsbehelfsentscheidungen v. 15.12.2015 zurückgewiesen. 24Mit am 10.6.2016 in das Rechtssachenregister eingetragener Klageschrift erhob Gamesa bei der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) Klage gegen die Staatliche Steuerverwaltungsagentur – Generaldirektion für Rechtsbehelfsentscheidungen und die Staatliche Steuerverwaltungsagentur – Generaldirektion für die Verwaltung von Großsteuerzahlern. Sie beantragt zum einen die teilweise Aufhebung des Steuerbescheids, soweit die Steuerverwaltung ihr mit diesem das Recht auf Abzug von Vorsteuer iHv 3.875.717 RON (ungefähr 890.000 €) für den Zeitraum v. 15.5.2009 bis zum 31.12.2013 versagte und eine Verpflichtung zur Zahlung von Nebenforderungen iHv 2.845.308 RON (ungefähr 654.000 €) auferlegte, und zum anderen die Aufhebung der Entscheidung der Staatlichen Steuerverwaltungsagentur – Generaldirektion für Rechtsbehelfsentscheidungen v. 15.12.2015 insgesamt. 25Mit ihrer Klage wirft Gamesa der Steuerverwaltung hauptsächlich vor, sie habe den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer
vor dem Hintergrund verkannt, dass sie, Gamesa, sämtlichen Verpflichtungen zur Reaktivierung ihrer USt-IdNr. nachgekommen sei. Die Steuerbehörde beruft sich zu ihrer Verteidigung auf die Notwendigkeit der genauen Erhebung der Mehrwertsteuer und der Verhinderung von Steuerhinterziehungen. 26Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen: 1.Verbietet die MwStSystRL (insbes. ihre Art. 213, 214 und 273) uU wie denen des Ausgangsverfahrens eine nationale Regelung oder Steuerpraxis, wonach einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn es nach der Reaktivierung der USt-IdNr. des Steuerpflichtigen mittels mehrerer Mehrwertsteuererklärungen geltend gemacht wird, nicht gewährt wird, weil sich die fragliche Vorsteuer auf Erwerbe bezieht, die in dem Zeitraum getätigt wurden, in dem die USt-IdNr. des Steuerpflichtigen inaktiv war? 2.Verbietet die MwStSystRL (insbes. ihre Art. 213, 214 und 273) uU wie denen des Ausgangsverfahrens eine nationale Regelung oder Steuerpraxis, wonach einem Steuerpflichtigen das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn es nach der Reaktivierung der USt-IdNr. des Steuerpflichtigen mittels mehrerer Mehrwertsteuererklärungen geltend gemacht wird, nicht gewährt wird, weil die fragliche Vorsteuer – obgleich sie sich auf Rechnungen bezieht, die nach der Reaktivierung der USt-IdNr. des Steuerpflichtigen ausgestellt wurden – Erwerbe betrifft, die in dem Zeitraum getätigt wurden, in dem die USt-IdNr. inaktiv war? Zu den Vorlagefragen: 27Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die MwStSystRL, namentlich ihre Art. 213, 214 und 273, dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, wonach die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen, der in einem Zeitraum Erwerbe getätigt hat, in dem seine USt-IdNr. gelöscht war, weil er keine Steuererklärungen abgegeben hatte, das Recht versagen kann, die Vorsteuer für diese Erwerbe mittels nach der Reaktivierung seiner Identifikationsnummer erstellter Mehrwertsteuererklärungen – oder ausgestellter Rechnungen – abzuziehen. Vorsteuerabzugsrecht als elementares Prinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems 28Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, ein fundamentaler Grundsatz des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (EuGH v. 19.10.2017 – C-101/16, EU:C:2017:775, MwStR 2017, 991 mAnm Grube, Rn. 35 – Paper Consult und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Wie der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben hat, ist das in den Art. 167 ff. MwStSystRL geregelte Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt wer- EuGH: Keine Versagung des Vorsteuerabzugs für Eingangsbezüge während eines vorübergehenden Zeitraums fehlender steuerlicher Erfassung - Siemens Gamesa Renewable Energy România SRL(MwStR 2018, 919) den. Insbes. kann dieses Recht für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (EuGH v. 19.10.2017 – C-101/16, EU:C:2017:775, MwStR 2017, 991 mAnm Grube, Rn. 36 – Paper Consult und die dort angeführte Rechtsprechung). 30 Durch die Abzugsregelung soll der Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet folglich die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten grundsätzlich selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (EuGH v. 19.10.2017 – C-101/16, EU:C:2017:775, MwStR 2017, 991 mAnm Grube, Rn. 37 – Paper Consult und die dort angeführte Rechtsprechung). Materielle und formelle Voraussetzungen für Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts 31 Das Recht auf Vorsteuerabzug unterliegt jedoch der Einhaltung sowohl materieller als auch formeller Anforderungen und Bedingungen. 32 Hinsichtlich der materiellen Anforderungen und Bedingungen ist es für das Recht auf Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a MwStSystRL von Bedeutung, dass der Betreffende „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Richtlinie ist und dass die zur Begründung dieses Rechts angeführten Gegenstände oder Dienstleistungen von ihm auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden und auf einer vorausgehenden Umsatzstufe von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert oder erbracht worden sind (EuGH v. 19.10.2017 – C-101/16, EU:C:2017:775, MwStR 2017, 991 mAnm Grube, Rn. 39 – Paper Consult). 33 Zu den Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug, die den formellen Anforderungen und Bedingungen gleichstehen, legt Art. 178 Buchst. a MwStSystRL fest, dass der Steuerpflichtige eine gemäß deren Art. 220 bis 236 und 238 bis 240 ausgestellte Rechnung besitzen muss (EuGH v. 19.10.2017 – C-101/16, EU:C:2017:775, MwStR 2017, 991 mAnm Grube, Rn. 40 – Paper Consult). Vorsteuerabzug ist zu gewähren, wenn materielle Voraussetzungen gegeben sind, selbst wenn Steuerpflichtiger bestimmte formelle Anforderungen nicht erfüllt 34 Nach ständiger Rechtsprechung erfordert das Grundprinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat (EuGH v. 28.7.2016 – C-332/15, EU:C:2016:614, MwStR 2016, 751 mAnm Reichelt, Rn. 45 – Astone; v. 19.10.2017 – C-101/16, EU:C:2017:775, MwStR 2017, 991 mAnm Grube, Rn. 41 – Paper Consult und v. 26.4.2018 – C-81/17, EU:C:2018:283, MwStR 2018, 607 mAnm de Weerth, Rn. 44 – Zabrus Siret). Formerfordernisse in Art. 213 und 214 MwStSystRL dienen Kontrollzwecken, die Vorsteuerabzug bei Erfüllung der materiellen Voraussetzungen nicht entgegenstehen 35 Insbes. stellen die in Art. 214 MwStSystRL vorgesehene Mehrwertsteuer-Identifikation sowie die in Art. 213 dieser Richtlinie vorgesehene Pflicht des Steuerpflichtigen, die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit anzuzeigen, nur Kontrollzwecken dienende Formerfordernisse dar, die namentlich das Recht auf Vorsteuerabzug nicht in Frage stellen dürfen, sofern die materiellen Voraussetzungen für die Entstehung dieses Rechts erfüllt sind (EuGH v. 9.7.2015 – C-183/14, EU:C:2015:454, MwStR 2015, 808 mAnm Masuch, Rn. 60 – Salomie und Oltean und v. 7.3.2018 – C-159/17, EU:C:2018:161, MwStR 2018, 515 mAnm Winter, Rn. 32 – Dobre). Fehlende Registrierung als Steuerpflichtiger steht Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts nicht entgegen 36 Folglich kann ein Mehrwertsteuerpflichtiger nicht mit der Begründung an der Ausübung seines Rechts auf Vorsteuerabzug gehindert werden, dass er sich nicht als mehrwertsteuerpflichtig hat registrieren lassen, bevor er die erworbenen Gegenstände im Rahmen seiner besteuerten Tätigkeit verwendet hat (EuGH v. 21.10.2010 – C- 385/09, EU:C:2010:627, DStRE 2011, 570 Rn. 51 – Nidera Handelscompagnie, sowie v. 7.3.2018 – C-159/17, EU:C:2018:161, MwStR 2018, 515 mAnm Winter, Rn. 33 – Dobre). Versagung des Vorsteuerabzugs wegen bloßer Nichtbefolgung von Aufzeichnungs- und Erklärungspflichten grundsätzlich unverhältnismäßig, … 37 Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass die Ahndung der Nichtbefolgung der Aufzeichnungs- und Erklärungspflichten durch den Steuerpflichtigen mit der Versagung des Abzugsrechts klar über das hinausgeht, was zur Erreichung des Ziels, die ordnungsgemäße Befolgung dieser Verpflichtungen sicherzustellen, erforderlich ist, da das Unionsrecht die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, gegebenenfalls eine Geldbuße oder eine finanzielle Sanktion zu verhängen, die in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere des Verstoßes steht (EuGH v. 9.7.2015 – C-183/14, EU:C:2015:454, MwStR 2015, 808 mAnm Masuch, Rn. 63 – Salomie und Oltean, und v. 7.3.2018 – C-159/17, EU:C:2018:161, MwStR 2018, 515 mAnm Winter, Rn. 34 – Dobre). … außer formeller Verstoß verhindert den sicheren Nachweis, dass materielle Anforderungen erfüllt sind
38 Anders verhalten könnte es sich, wenn der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert hat, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden (EuGH v. 28.7.2016 – C-332/15, EU:C:2016:614, MwStR 2016, 751 mAnm Reichelt, Rn. 46 – Astone und die dort angeführte Rechtsprechung und v. 7.3.2018 – C-159/17, EU:C:2018:161, MwStR 2018, 515 mAnm Winter, Rn. 35 – Dobre). Versagung des Vorsteuerabzugs, wenn objektiv feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wurde 39Ebenso kann das Recht auf Vorsteuerabzug verweigert werden, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (EuGH v. 19.10.2017 – C-101/16, EU:C:2017:775, MwStR 2017, 991 mAnm Grube, Rn. 43 – Paper
40 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Gamesa v. 7.10.2010 bis zum 24.5.2011 zum inaktiven Steuerpflichtigen erklärt war, da sie während eines Kalenderhalbjahres keine der gesetzlich vorgesehenen Erklärungspflichten erfüllt hatte. Allerdings wurde sie beginnend zum 25.5.2011 mehrwertsteuerlich reaktiviert und erneut entsprechend registriert. Im Anschluss an diese Reaktivierung übte sie ihr Recht auf Vorsteuerabzug mittels nach dieser Reaktivierung erstellter Mehrwertsteuererklärungen oder ausgestellter Rechnungen aus. Zeitpunkt der Fertigung der Mehrwertsteuererklärung oder der Rechnungsausstellung grundsätzlich ohne Einfluss auf materielle Anforderungen an Vorsteuerabzug 41Es ist darauf hinzuweisen, dass der Zeitpunkt, zu dem die Mehrwertsteuererklärung erstellt oder die Rechnung ausgestellt wurde, nicht zwingend Auswirkungen auf die materiellen Anforderungen hat, die ein Recht auf Vorsteuerabzug begründen. Vorsteuerabzugsrecht könnte deshalb nach mehrwertsteuerlicher Reaktivierung geltend gemacht werden 42 Daraus ergibt sich, dass, sofern die materiellen Anforderungen erfüllt sind, die ein Recht auf Abzug der entrichteten Mehrwertsteuer als Vorsteuer begründen, und das Abzugsrecht nicht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird, eine Gesellschaft in einer Situation wie derjenigen von Gamesa berechtigt wäre, ihr Abzugsrecht mittels nach ihrer mehrwertsteuerlichen Reaktivierung erstellter Mehrwertsteuererklärungen oder ausgestellter Rechnungen geltend zu machen.
Nationales Gericht muss prüfen, ob hinreichende Angaben für Feststellung der materiellen Voraussetzungen für Vorsteuerabzug erfüllt sind
43 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, ua zu prüfen, ob die Steuerverwaltung über die Angaben verfügte, die für die Feststellung erforderlich sind, dass die materiellen Anforderungen erfüllt waren, die ein Recht auf Abzug der von Gamesa entrichteten Mehrwertsteuer als Vorsteuer begründen, und zwar unabhängig vom Zeitpunkt der Mehrwertsteuererklärung oder vom Rechnungsdatum. 44 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass
(Tenor) Erste Einordnung: Das Besprechungsurteil ist wichtig, weil es eine Abgrenzung zu bereits ergangener EuGH-Rechtsprechung zur rumänischen Rechtslage vornimmt: Der EuGH hatte in der Rs. Paper Consult grundsätzlich geklärt, dass die in Rumänien bestehende Regelung, wonach der Vorsteuerabzug auch dann versagt werden darf, wenn ein Steuerpflichtiger bei Eingangsleistungen, die er von einem umsatzsteuerlich gelöschten Unternehmen bezogen hat, den Nachweis führen will, dass tatsächlich keine Steuerhinterziehung bzw. kein Steuerausfall vorliegt, mit dem Unionsrecht nicht im Einklang steht (EuGH v. 19.10.2017 – C-101/16, MwStR 2017, 991 mAnm Grube – Paper Consult,). Zu einem weiteren Vorlageverfahren aus Rumänien hat der EuGH demgegenüber entschieden, dass die Nichtabgabe von Steuererklärungen mit einer Versagung des Vorsteuerabzugs geahndet werden darf (EuGH v. 7.3.2018 – C-159/17, MwStR 2018, 515 mAnm Winter – Dobre,). Aus dem Sachverhalt des EuGH-Urteils in der Rs. Dobre geht hervor, dass die umsatzsteuerliche Erfassung der Steuerpflichtigen wegen der Nichtabgabe von Steuererklärungen gelöscht wurde, die Steuerpflichtige während des Zeitraums ihrer Löschung aber gleichwohl Rechnungen mit Umsatzsteuerausweis ausstellte, ohne entsprechende Steuererklärungen einzureichen. Wie im Besprechungsurteil war der EuGH bei dieser Entscheidung davon ausgegangen, dass der Vorsteuerabzug grundsätzlich zu gewähren ist, auch wenn bestimmte formelle Voraussetzungen nicht erfüllt sind, es sei denn, das Vorliegen der materiellen Voraussetzungen kann nicht festgestellt werden. In der Rs. Dobre gelangte der EuGH nun zu dem Ergebnis, dass die Nichtabgabe der Mehrwertsteuererklärung die genaue Erhebung der Steuer verhindern und demzufolge das ordnungsgemäße Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems in Frage stellen kann; somit verbietet es das Unionsrecht nicht, solche Verstöße als Steuerhinterziehung anzusehen und in einem solchen Fall den für Eingangsbezüge während des Zeitraums der fehlenden Registrierung als Steuerpflichtige begehrten Vorsteuerabzug zu versagen (EuGH v. 7.3.2018 – C-159/17, MwStR 2018, 515 mAnm Winter, Rn. 40, 41 – Dobre,).
Im Besprechungsurteil fehlen indessen vergleichbare Anhaltspunkte für eine etwa begangene Steuerhinterziehung; die Steuerpflichtige hat nach dem Sachverhalt des Besprechungsurteils erst nach ihrer erfolgten „Reaktivierung“ Rechnungen mit Mehrwertsteuerausweis ausgestellt, Steuererklärungen eingereicht und den Vorsteuerabzug für die während des Zeitraums ihrer fehlenden steuerlichen Erfassung erfolgten Eingangsbezüge begehrt. Der EuGH hat im Besprechungsurteil zum wiederholten Mal hervorgehoben, dass das Recht auf Vorsteuerabzug ausnahmsweise versagt werden darf, wenn aufgrund der objektiven Sachlage feststeht, dass dieses Recht in betrügerischer Weise oder missbräuchlich geltend gemacht wird (Rn. 39). Der EuGH stellt klar, dass der Zeitpunkt, zu dem die Mehrwertsteuererklärung gefertigt oder die Eingangsrechnung erteilt wurde, nicht zwingend Auswirkungen auf die materiellen Anforderungen hat, die ein Vorsteuerabzugsrecht begründen (Rn. 41). Deshalb kommt der EuGH im Besprechungsurteil zu dem für die Steuerpflichtige erfreulichen Ergebnis, dass ihr ein Vorsteuerabzug auch für die Eingangsleistungen zusteht, die sie im Zeitraum ihrer fehlenden Registrierung als Steuerpflichtige bezogen hat. Diese Entscheidung steht im Einklang mit bereits ergangener Rechtsprechung des EuGH: In der Rs. Nidera hatte der EuGH bereits den begehrten Vorsteuerabzug einer Steuerpflichtigen bejaht, die zum Zeitpunkt der bezogenen Eingangslieferungen und den anschließend ausgeführten Lieferungen der bezogenen Gegenstände in ein Drittland noch nicht umsatzsteuerlich erfasst war (EuGH v. 21.10.2010 – C-385/09, DStRE 2011, 570 – Nidera Handelscompagnie,). Diese Rechtsprechung hat der EuGH später noch einmal bestätigt (EuGH v. 9.7.2015 – C-183/14, MwStR 2015, 808 mAnm Masuch – Salomie und Oltean,).
Im deutschen Umsatzsteuerrecht fehlen der rumänischen Rechtslage vergleichbare spezielle Regelungen. Im Übrigen hat der BFH die ergangene EuGH-Rechtsprechung zur Versagung des Vorsteuerabzugs bei selbst begangener Steuerhinterziehung oder bei Kenntnis oder „Kennenmüssen“ der Steuerhinterziehung eines Dritten und bei „Missbrauch“ bereits seit langem umgesetzt; dabei handelt es sich um einen eigenständigen Vorsteuerversagungsgrund (BFH v. 19.4.2007 – V R 48/04, DStR 2007, 1524; v. 19.5.2010 – XI R 78/07, BeckRS 2010, 25016433 und v. 28.6.2017 – XI R 12/15, MwStR 2017, 788 mAnm Widmann). Ferner hat der BFH im Lichte der neueren Rechtsprechung des EuGH zu bloß formellen – den Vorsteuerabzug nicht „per se“ ausschließenden – Verstößen nun seine Rechtsprechung zum Rechnungsmerkmal „vollständige Anschrift“ bei der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug geändert: Danach verlangt die Regelung in § 14 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 UStG nicht, dass die wirtschaftlichen Tätigkeiten des leistenden Unternehmers unter der Anschrift ausgeübt werden, die in der dem Unternehmer erteilten Rechnung, für dessen Unternehmen die Lieferungen oder sonstigen Leistungen ausgeführt worden sind, angegeben ist; dies gilt jedenfalls dann, wenn der leistende Unternehmer unter der von ihm angegebenen Rechnungsanschrift erreichbar ist (BFH v. 13.6.2018 – XI R 20/14, in diesem Heft MwStR 2018 933 mAnm Scharrer; v. 21.6.2018 – V R 25/15, MwStR 2018, 802 mAnm Kemper; v. 21.6.2018 – V R 28/16, MwStR 2018, 799). Auch zur erforderlichen Angabe des Kalendermonats als Leistungszeitpunkt (§ 14 Abs. 4 S. 1 Nr. 6 UStG iVm § 31 Abs. 4 UStDV) hat der BFH seine strenge Rechtsprechung ein wenig gelockert und entschieden, dass sich dies unter Beachtung der unionsrechtlichen Vorgaben aus dem Ausstellungsdatum der Rechnung ergeben kann, wenn nach den Verhältnissen des jeweiligen Einzelfalls davon auszugehen ist, dass die Leistung in dem Monat bewirkt wurde, in dem die Rechnung ausgestellt wurde (BFH v. 1.3.2018 – V R 18/17, MwStR 2018, 564 mAnm Weymüller vgl. Grube, jurisPR-SteuerR 29/2018 Anm. 6). Zu den Anforderungen an die Leistungsbeschreibung in einer Rechnung (§ 14 Abs. 4 S. 1 Nr. 5 UStG) im Niedrigpreissegment ist beim BFH unter dem Aktenzeichen XI R 2/18 ein Revisionsverfahren anhängig (Vorinstanz FG Hessen v. 12.10.2017 – 1 K 2402/14, DStRE 2018, 1049, kritisch dazu Prätzler jurisPR-SteuerR 12/2018 Anm. 5). Prof. Dr. Friederike Grube, RiaBFH München