EuGH-Nachfolgeentscheidung

    Änderung der Rechtsprechung zu den Rechnungsanforderungen in § 14 Abs. 4 UStG


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    UStG § 4 Nr. 1 Buchst. b, § 6a, § 14 Abs. 4, § 14a, § 15 Abs. 1 Nr. 1
    FGO § 118 Abs. 2
    1.Eine zum Vorsteuerabzug berechtigende Rechnung setzt nicht voraus, dass die wirtschaftlichen Tätigkeiten des leistenden Unternehmers unter der Anschrift ausgeübt werden, die in der von ihm ausgestellten Rechnung angegeben ist (Änderung der Rechtsprechung).
    2.Es reicht jede Art von Anschrift und damit auch eine Briefkastenanschrift, sofern der Unternehmer unter dieser Anschrift erreichbar ist.
    BFH, Urt. v. 21.6.2018 – V R 25/15
    Vorinstanz: FG Köln v. 28.4.2015 – 10 K 3803/13, MwStR 2016, 41 mAnm Möller
    Tenor:
    Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des FG Köln v. 28.4.2015 – 10 K 3803/13, MwStR 2016, 41 mAnm Möller aufgehoben. Die Sache wird an das FG Köln zurückverwiesen. Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
    Sachverhalt:
    1 I. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) aus Rechnungen der Firma Z (Z) den Vorsteuerabzug geltend machen kann.
    2 Der Kläger betreibt einen Kraftfahrzeughandel. In den Streitjahren (2009 bis 2011) kaufte er ua Fahrzeuge von Z, der sein Unternehmen im Jahr 2006 in die E-Straße in R (Inland) verlegt hatte. Unter dieser Adresse hat Z dem Kläger die streitbefangenen Rechnungen ausgestellt.
    3 Z hatte in N (Inland) von der dort ansässigen Firma U Räumlichkeiten angemietet. Ob es sich dabei um einen Raum oder nur um den Teil eines Raumes handelte, ist streitig. Unstreitig ist, dass Z dort kein Autohaus unterhielt. Er vertrieb ausschließlich im Onlinehandel. Die Fahrzeuge wurden dem Kläger oder seinen Mitarbeitern zT in R in der E-Straße, zT an öffentlichen Plätzen – zB Bahnhofsvorplätzen – übergeben. Nach dem Vortrag des Klägers kam in dem Büro Post an, wurde dort sortiert und bearbeitet und es wurden dort die Akten geführt. Außen am Gebäude befand sich ein Firmenschild mit dem Aufdruck „Z“. Ob sich dort auch ein Briefkasten befand, ist nicht geklärt. Z wurde unter der vorgenannten Anschrift beim FA T geführt. 4 Im Rahmen einer beim Kläger durchgeführten Umsatzsteuer-Sonderprüfung gelangte der Prüfer zu der Auffassung, dass Vorsteuerbeträge aus den Eingangsrechnungen des Z nicht in Abzug gebracht werden könnten, weil die in den Rechnungen ausgewiesene Anschrift des leistenden Unternehmers tatsächlich nicht bestanden habe. Z habe im Inland keine Betriebsstätte. Die Geschäftsadresse diene nur als Briefkastenadresse (Scheinadresse), an der lediglich von Z die Post abgeholt worden sei. Es sei dort nichts vorhanden gewesen, was auf ein Unternehmen hindeute.
    5 Der Beklagte und Revisionskläger (das FA) folgte der Auffassung der Umsatzsteuer-Sonderprüfung und erließ am 13.9.2013 geänderte Umsatzsteuerbescheide für 2009 bis 2011. Mit Verfügung v. 1.10.2013 lehnte es den Antrag des Klägers auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen gemäß § 163 AO ab. Die hiergegen eingelegten Einsprüche blieben ohne Erfolg.
    6 Das FG gab der Klage statt. Z habe unter der in den Rechnungen angegebenen Anschrift zwar keine geschäftlichen Aktivitäten entfaltet, denn es sei bereits unklar, ob Z überhaupt einen abgeschlossenen Raum oder lediglich eine Teilfläche in einem Raum gemietet habe. Selbst wenn man davon ausgehe, dass Z einen ganzen Raum angemietet habe, sei dieser nicht so eingerichtet gewesen, dass dort geschäftliche Aktivitäten hätten stattfinden können.
    7 Der Klage sei aber stattzugeben, weil die Angabe der Anschrift iSd § 14 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 UStG nicht erfordere, dass dort geschäftliche Aktivitäten stattfänden. Die anderslautende Rechtsprechung des BFH sei in Anbetracht der technischen Fortentwicklung und der Änderung des Geschäftsgebarens überholt.
    8 Im Übrigen habe die Klage auch mit dem Hilfsantrag auf abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen Erfolg. Der Kläger habe alles getan, was von ihm zumutbarer Weise verlangt werden könne, um die Unternehmereigenschaft des Z und die Richtigkeit der Rechnungsangaben zu überprüfen.
    9 Hiergegen richtet sich die Revision, mit der das FA Verletzung materiellen Rechts (§ 15 Abs. 1, § 14 Abs. 4 UStG) sowie Verfahrensfehler (Verletzung der Pflicht zur Sachaufklärung gemäß § 76 Abs. 1 FGO) geltend macht.
    10 Das FG habe im Rahmen seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung aufklären müssen, ob es sich bei den Lieferungen des Z um innergemeinschaftliche Lieferungen gehandelt habe; hierfür gebe es zahlreiche Anhaltspunkte.
    11 Im Übrigen scheitere der Vorsteuerabzug daran, dass die Rechnungen des Z nicht die Anschrift auswiesen, unter der er seine geschäftlichen Aktivitäten entfaltet habe.
    12 Die Gewährung der Vorsteuern im Billigkeitsverfahren komme nicht in Betracht, weil der Kläger nicht alles ihm Zumutbare getan habe, um sich von der Richtigkeit der Rechnungsangaben zu überzeugen.
    13 Das FA beantragt sinngemäß, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
    14 Der Kläger beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.
    15 Soweit das FA rüge, das FG habe nicht aufgeklärt, ob es sich bei den Lieferungen des Z um innergemeinschaftliche Lieferungen gehandelt habe, liege neuer, im Revisionsverfahren nicht zu berücksichtigender Sachvortrag vor.
    16 Im Übrigen hätten die Rechnungen des Z dessen zutreffende Anschrift ausgewiesen. Denn dort habe sich dessen Unternehmen befunden. Z habe dort Miete gezahlt, einen eigenen Briefkasten und ein Firmenschild gehabt, geschäftliche Unterlagen dort verwahrt, Post sei dort für ihn angenommen und abgeholt worden und er habe einen Festnetztelefonanschluss unterhalten.
    BFH: EuGH-Nachfolgeentscheidung: Änderung der Rechtsprechung zu den Rechnungsanforderungen in § 14 Abs. 4 UStG(MwStR 2018, 802) 803
    17 Der Senat hat das Verfahren mit Beschluss v. 6.4.2016 – V R 25/15 (BFHE 254, 139, MwStR 2016, 663) ausgesetzt und dem EuGH ua folgende Fragen zur Auslegung der MwStSystRL vorgelegt:
    18 1. Setzt Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL die Angabe einer Anschrift des Steuerpflichtigen voraus, unter der er seine wirtschaftlichen Tätigkeiten entfaltet?
    19 2. Für den Fall, dass Frage 1. zu verneinen ist:
    a)Reicht für die Angabe der Anschrift nach Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL eine Briefkastenadresse?
    b)Welche Anschrift ist von einem Steuerpflichtigen, der ein Unternehmen (zB des Internethandels) betreibt, das über kein Geschäftslokal verfügt, in der Rechnung anzugeben?
    20Der EuGH hat die erste und die zweite Frage durch Urteil Geissel und Butin v. 15.11.2017 – C-374/16 und C-375/16 (EU:C:2017:867, MwStR 2017, 987 mAnm Weymüller) dahingehend beantwortet, dass Art. 168 Buchst. a und Art. 178 Buchst. a iVm Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug davon abhängig macht, dass in der Rechnung die Anschrift angegeben ist, unter der der Rechnungsaussteller seine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.
    Gründe:
    21 II. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO). Zwar hat das FG zu Recht entschieden, dass dem Kläger der Vorsteuerabzug aus den Rechnungen des Z über die in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) gelieferten Fahrzeuge zusteht. Für einen Großteil der Lieferungen lassen die Feststellungen des FG aber keine Beurteilung zu, ob die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG erfüllt sind, weil unklar ist, ob der Lieferer die Umsatzsteuer aus den Lieferungen gesetzlich schuldet.
    22 1. Gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 S. 1 UStG kann der Unternehmer die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, abziehen. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt dabei voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt.
    23 a) Die Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Nr. 1 S. 1 UStG hat der Kläger durch den Bezug der von Z im Inland gelieferten Fahrzeuge erfüllt. Für 15 % der Lieferungen, die der Kläger von Z bezogen hat, hat das FG gemäß § 118 Abs. 2 FGO für den Senat bindend festgestellt, dass die Fahrzeuge „aus Deutschland stammten“. Der Senat hat das dahingehend verstanden, dass die Lieferungen in Deutschland ausgeführt wurden und die materiellen Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 UStG erfüllt sind.
    Vollständige Anschrift als Rechnungserfordernis
    24 b) Der Kläger besitzt insoweit auch nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnungen. Zwar erfordert eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung, dass die Rechnung den Anforderungen des § 14 Abs. 4 UStG entspricht, was gemäß § 14 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 UStG die Angabe des vollständigen Namens und der vollständigen Anschrift des leistenden Unternehmers und des Leistungsempfängers erfordert.
    Bisherige Rechtsprechung des BFH
    25 Nach bisheriger Rechtsprechung des BFH wird das Merkmal „vollständige Anschrift“ in § 14 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 UStG nur durch die Angabe der zutreffenden Anschrift des leistenden Unternehmers erfüllt, unter der er seine wirtschaftlichen Aktivitäten entfaltet; die Angabe eines „Briefkastensitzes“ mit nur postalischer Erreichbarkeit, an dem im Zeitpunkt der Rechnungstellung keinerlei geschäftliche Aktivitäten stattfinden, reichte danach als zutreffende Anschrift nicht aus (BFH v. 22.7.2015 – V R 23/14, BFHE 250, 559, BStBl. II 2015, 914, MwStR 2015, 816 mAnm Weymüller, Rn. 25; v. 8.7.2009 – XI R 51/07, BFH/NV 2010, 256, BeckRS 2009, 25015794 Rn. 16; v. 30.4.2009 – V R 15/07, BFHE 225, 254, BStBl. II 2009, 744, DStR 2009, 1427 Rn. 32, 39; v. 6.12.2007 – V R 61/05, BFHE 221, 55, BStBl. II 2008, 695, DStR 2008, 821 Rn. 33; v. 19.4.2007 – V R 48/04, BFHE 217, 194, BStBl. II 2009, 315, DStR 2007, 1524 Rn. 50; v. 27.6.1996 – V R 51/93, BFHE 181, 197, BStBl. II 1996, 620, DStR 1996, 1806 Rn. 15).
    Die Zäsur: Die EuGH-Entscheidung Geissel und Butin
    26 Hieran hält der Senat nach dem EuGH-Urteil Geissel und Butin (EU:C:2017:867, MwStR 2017, 987 mAnm Weymüller) nicht mehr fest. § 15 Abs. 1 Nr. 1, § 14 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 UStG sind vielmehr richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass eine zum Vorsteuerabzug berechtigende Rechnung nicht voraussetzt, dass die wirtschaftlichen Tätigkeiten des leistenden Unternehmers unter der Anschrift ausgeübt werden, die in der von ihm ausgestellten Rechnung angegeben ist. Vielmehr reicht jede Art von Anschrift, einschließlich einer Briefkastenanschrift, sofern der Unternehmer unter dieser Anschrift erreichbar ist. Diese Voraussetzungen erfüllen die von Z ausgestellten Rechnungen, weil er unter der von ihm angegebenen Rechnungsanschrift Post erhalten hat. Nunmehr reicht jede Art von Anschrift aus
    27 c) Für 85 % der streitigen Fahrzeuglieferungen hat das FG aber nicht geklärt, ob überhaupt die materiellen Voraussetzungen des § 15 Abs. 1 Nr. 1 S. 1 UStG – hier die vom leistenden Unternehmer „geschuldete Steuer“ – erfüllt sind.
    28 Da die Fahrzeuge nach den Feststellungen des FG aus Frankreich stammten, Z dort seinen Wohnsitz und seine Bankverbindung hatte und in Deutschland in R keine geschäftlichen Aktivitäten entfaltete, liegt es nahe, dass die Fahrzeuge bei der Lieferung an den Abnehmer (Kläger) aus dem Gebiet eines Mitgliedstaates in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaates gelangt und diese Lieferungen des Z an den Kläger deshalb gemäß § 4 Nr. 1 Buchst. b, § 6a UStG als innergemeinschaftliche Lieferungen steuerfrei sind. Damit würden die materiellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugsrechts nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 UStG nicht vorliegen, weil es an einer vom leistenden Unternehmer „geschuldeten“ Steuer fehlen würde. Auch ein Vorsteuerabzug aus Vertrauensschutzgründen scheidet im Hinblick auf eine Mehrwertsteuer aus, die nur deshalb geschuldet wird, weil sie in der Rechnung ausgewiesen ist (EuGH-Urteil Kreuzmayr GmbH v. 21.2.2018 – C-628/16, EU:C:2018:84, MwStR 2018, 308 mAnm Widmann). Das FG wird die erforderlichen Feststellungen zum Ort dieser Lieferungen nachholen.
    BFH: EuGH-Nachfolgeentscheidung: Änderung der Rechtsprechung zu den Rechnungsanforderungen in § 14 Abs. 4 UStG(MwStR 2018, 802) 804
    29 2. Der XI. Senat des BFH hat auf Anfrage mitgeteilt, dass er einer Abweichung von seinem Urteil v. 8.7.2009 – XI R 51/07 (BFH/NV 2010, 256, BeckRS 2009, 25015794) zustimmt.
    30 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
    Erste Einordnung:
    Mit seinen beiden Entscheidungen v. 21.6.2017 (V R 25/15, s.o., und V R 28/15, in diesem Heft MwStR 2018, 799) musste sich der BFH erneut mit den notwendigen Rechnungsangaben des § 14 Abs. 4 UStG befassen; diesmal mit der Nr. 1 der Regelung, der Angabe der (vollständigen) Anschrift des leistenden Unternehmers. Die Besprechungsfälle zeigen wieder, welche vielfältigen Probleme hierin auftreten können und welche große Bedeutung der Beachtung der Rechnungsanforderungen in der Praxis zukommt.

    Inhaltlich befassen sich beide Entscheidungen damit, ob die auf Rechnungen angegebene Anschrift zugleich der Ort sein muss, an dem der Rechnungsaussteller seine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt, was sich so als Tatbestandsmerkmal weder aus dem deutschen Gesetz noch aus der unionsrechtlichen Grundlage in Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL herauslesen lässt. Dennoch hatte der BFH in seiner bisherigen ständigen Rechtsprechung durchweg an dieser inhaltlichen Auslegung der Anschrift als Rechnungsmerkmal festgehalten; ein „Briefkastensitz“ reichte demnach nicht als zutreffende Anschrift aus (vgl. die Nachw. in V R 25/15, Rn. 25 und V R 28/16, Rn. 27). Die mögliche fehlende Übereinstimmung dieser Sichtweise mit dem Unionsrecht veranlasste den BFH allerdings im Jahr 2016 dazu, dem EuGH in der Streitsache V R 25/15 (ua) die dahingehende Vorlagefrage zu stellen (MwStR 2016, 663), „ob Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL die Angabe einer Anschrift des Steuerpflichtigen voraussetzt, unter der er seine wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet?“ Diese Frage beantwortete der EuGH nun ausgesprochen klar mit seinem Urteil v. 15.11.2017 (C-374/16, Geissel, und C-375/16, Butin, ECLI:EU:C:2017:867, MwStR 2017, 987 mAnm Weymüller) so, dass die Vorgaben der MwStSystRL dahin auszulegen sind, dass „sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug davon abhängig macht, dass in der Rechnung die Anschrift angegeben ist, unter der der Rechnungsaussteller seine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt“. Schon wegen dieser klaren Vorgabe durch den EuGH sind die beiden Entscheidungen des BFH v. 21.6.2018 eigentlich wenig überraschend. Insoweit spricht der BFH im Tenor beider Entscheidungen ausdrücklich von einer „Änderung der Rechtsprechung“.

    Zunächst sind einige Anmerkungen zum Hintergrund der bisherigen engen Sichtweise des BFH angebracht. Schon die beiden Besprechungsfälle zeigen anschaulich, worum es bei dem Rechnungsmerkmal der (vollständigen) Anschrift des Rechnungsausstellers und der Problematik von „Briefkastenadressen“ eigentlich geht (§ 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG), nämlich der Bekämpfung der Umsatzsteuerhinterziehung. Beiden Fällen lagen Sachverhalte zugrunde, die in der Vergangenheit immer wieder im Zusammenhang mit Steuerhinterziehungen standen; mithin mit solchen Fällen, in denen die Umsatzsteuer gezielt dadurch hinterzogen wurde, dass sich der Rechnungsaussteller seinen umsatzsteuerlichen Pflichten – insbes. der Zahlung der Steuer – entzog. Dies war gerade beim Handel mit Altmetall (V R 28/16) und Kraftfahrzeugen (V R 25/15) ein Prüfungsschwerpunkt der Finanzämter in den letzten Jahren. Ohne das hier vertiefen zu wollen, erklärt es sich mE fast von selber, dass sich die Verantwortlichen solcher Straftaten den Konsequenzen ihrer Taten deutlich leichter entziehen können, wenn sie für die Strafverfolgungsbehörden weitgehend unerreichbar sind, etwa, weil der vermeintliche Unternehmenssitz lediglich eine Briefkastenadresse ist. Das ist aber nur die eine Seite der Problematik, denn andererseits entspricht es der Rechtswirklichkeit, dass zB das Festhalten am Erfordernis einer „festen Geschäftseinrichtung“ in Zeiten von Internet und Onlinehandel jedenfalls nicht zwingend notwendig ist. Heute benötigen viele Unternehmer zur Ausführung ihrer Umsätze nicht mehr als einen tragbaren Computer. Auch der Geschäftsgründer oder der Kleinunternehmer verfügt häufig nicht mehr als über einen Unternehmenssitz an seiner Privatadresse. Insoweit war die bisherige Rechtsprechung des BFH auch mit Blick auf diese Unternehmer problematisch. Zudem konnte man sich im konkreten Fall trefflich darüber streiten, ob es sich um eine „Briefkastenadresse“ oder nicht doch um den Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit handelte, was dann oft Jahre nach Ausführung der streitbefangenen Umsätze zu entscheiden war.

    Dass der BFH nun aber im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH entschieden hat, dass „eine zum Vorsteuerabzug berechtigende Rechnung nicht voraussetzt, dass die wirtschaftlichen Tätigkeiten des leistenden Unternehmers unter der Anschrift ausgeübt werden, die in der von ihm ausgestellten Rechnung angegeben ist und dass jede Art von Anschrift und damit auch eine Briefkastenanschrift ausreicht, sofern der Unternehmer unter dieser Anschrift erreichbar ist“ (Ls. von V R 25/15), dürfte insoweit die Rechtsanwendung bei dem Rechnungsmerkmal des § 14 Abs. 4 Nr. 1 UStG deutlich erleichtern. Für alle ehrlichen Unternehmer, die – aus welchen Gründen auch immer – Schwierigkeiten mit der Erfüllung dieses Rechnungsmerkmals hatten, ist das eine gute Nachricht. Gleiches gilt für alle Unternehmer, die aus Rechnungen, in denen ihr Leistender und Rechnungsaussteller von einer Wohnadresse oder gar von einer Briefkastenadresse aus auftritt, die Vorsteuer zum Abzug bringen wollen. Hier dürften nunmehr idR keinen weiteren Ermittlungen angebracht sein, ob der Leistende unter dieser Adresse auch seine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Im Ergebnis ist das zu begrüßen, denn solche Ermittlungen gestalten sich schwierig und aufwendig; in einem Massenverfahren, wie bei der Umsatzsteuer, sind das echte Hemmnisse. Als wichtiges Resümee der beiden Entscheidungen kann man deshalb wohl festhalten, dass sie für alle Leistungsempfänger für mehr Rechtssicherheit bei der Inanspruchnahme des Vorsteuerabzugs sorgen.

    Leider stehen diesem positiven Aspekt aber zwei Nachteile gegenüber: Zunächst werden wohl weitere Steuerausfälle bei der Umsatzsteuer eintreten. Zudem wird die Betrugsbekämpfung bei der Umsatzsteuer erschwert. Hier ist davon auszugehen, dass dann – wenn bloße „Briefkastenadressen“ als Angabe auf Rechnungen ausreichen – der Fiskus (und nicht der Rech- BFH: EuGH-Nachfolgeentscheidung: Änderung der Rechtsprechung zu den Rechnungsanforderungen in § 14 Abs. 4 UStG(MwStR 2018, 802) 805
    nungsempfänger) in solchen Fällen, in denen der Aussteller die Umsatzsteuer nicht bezahlt, oft auf dem Steuerschaden „sitzen bleiben“ wird. Des Weiteren wird die Bekämpfung von Betrugsfällen schwieriger, denn wenn die Finanzbehörden günstigstenfalls Monate später davon erfahren, dass hier ein „Unternehmer“ unter einer „Briefkastenadresse“ Rechnungen ausstellt und seinen umsatzsteuerlichen Pflichten nicht gerecht wird, dann wird es meist zu spät sein, die dafür verantwortliche Person zur Rechenschaft zu ziehen; diese wird ihre Machenschaften uU bereits unter einer neuen Briefkastenadresse fortsetzen.
    In jedem Fall sollten Unternehmer aber trotz der Rechtsprechungsänderung des BFH bei der Akzeptanz von Eingangsrechnungen weiter eine gewisse Sorgfalt – insbes. bei der Anbahnung neuer Geschäftsbeziehungen – wahren. Kein Unternehmer darf sich zu blauäugig auf die Angaben seiner Geschäftspartner verlassen, wenn er später aus deren Rechnungen Vorsteuern zum Abzug bringen will. Hier ist immer die Missbrauchsrechtsprechung des EuGH (vgl. nur Urt. v. 18.12.2014 – C-131/13, Schoenimport „Italmoda“, C-163/13, Turbu.com BV und C-164/13, Turbu.com Mobile Phone’s BV, MwStR 2015, 87 mAnm Grube) zu berücksichtigen – welche in der deutschen Rechtsanwendung bisher eher selten herangezogen wird –, wonach ein Unternehmer dann generell vom Abzug der Vorsteuer ausgeschlossen ist, wenn er die Missbrauchsabsicht seines Geschäftspartners hätte erkennen können oder wenn er darum sogar wusste. Insoweit gilt für alle Unternehmer weiter die Empfehlung, eine gewisse Sorgfalt bei der Überprüfung vor allem neuer Geschäftspartner anzuwenden, dies insbes., wenn größere Umsätze abgewickelt werden. Erörterungswürdig bei den beiden BFH-Entscheidungen ist allerdings die Einschränkung im jeweils zweiten Ls. Dort führt der BFH aus, dass der Unternehmer „ … unter dieser Adresse erreichbar sein muss“. Die Erwähnung dieses einschränkenden Tatbestandsmerkmals der Anschrift verwundert etwas, denn es liegt wohl in der Natur einer „Briefkastenadresse“, dass den Inhaber jedenfalls seine Post auch erreicht; oft gilt das Gleiche für eingehende Telefonate, Faxe und E-Mails; die Serviceleistungen der Anbieter von „Briefkästen“ sind hier zumeist umfassend; die vorübergehende „Erreichbarkeit“ ist der wesentliche Zweck jedes „Briefkastens“. Was der BFH damit also meint, verschließt sich mir und zudem entstehen daraus neue Fragen:

    –Muss der Rechnungsempfänger nun immer prüfen, ob der jeweilige Rechnungsaussteller auch unter der in der Rechnung genannten Adresse erreichbar ist?
    –Welche Kontaktwege muss er dazu nutzen?
    –Reicht hier die postalische Erreichbarkeit oder müssen mehrere Kommunikationswege offenstehen?
    –Wie müssen diese Schritte dokumentiert werden?
    Hinzu kommt die Frage, wie das später – etwa im Rahmen einer mehrere Jahre später durchgeführten Außenprüfung – nachprüfbar sein soll, insbes. wenn der Rechnungsaussteller unter der Briefkastenadresse schon lange nicht mehr erreichbar ist. Da dem Leistungsempfänger eine spätere fehlende Erreichbarkeit des Rechnungsausstellers mE nicht zur Last gelegt werden kann, sollte der den Vorsteuerabzug begehrende Unternehmer aber dennoch dafür Sorge tragen, entsprechende Nachweise vorzuhalten, dass sein Leistender jedenfalls zum Zeitpunkt der Durchführung des Umsatzes (ursprünglich) unter seiner Anschrift erreichbar war. Das birgt Konfliktpotential für kommende Außenprüfungen. In Anbetracht der hier schon bei einer ersten Einordnung der Entscheidungen ins Auge tretenden Fragen dürfte sich daher die Erleichterung für Unternehmer in laufenden Geschäftsbeziehungen im Ergebnis in Grenzen halten. Für bereits anhängige Rechtsbehelfs- und Klageverfahren können die beiden Besprechungsfälle allerdings durchaus zugunsten der Steuerpflichtigen entscheidungserheblich sein. Die Berufung auf die bisherige Rechtsprechung des BFH durch die Finanzbehörden, wonach die Anschrift auf einer Rechnung der Ort der wirtschaftlichen Tätigkeit des Rechnungsausstellers sein muss, ist schlicht nicht mehr haltbar.

    Dr. Martin Kemper, München

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